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Identitätspolitik – Die Politik des Eigenen und der Zugehörigkeit
Wer gehört zu welcher gesellschaftlichen Gruppe? Welche Identität schreiben sich Gruppen und Einzelpersonen selbst zu? Welche wird ihnen von anderen zugeschrieben?
Die eigene Identität zu politisieren, ist oft eine Reaktion auf Diskriminierungserfahrungen. Solche Diskriminierungen funktionieren meist kollektiv z.B. gegen „die Schwulen“ oder „die Lesben“. Als eine Reaktion darauf hilft es, sich kollektiv zu wehren, die eigene Betroffenheit mit anderen zu teilen und die Erfahrung von Gemeinschaft zu machen.
Identitätspolitik hat jedoch zwei Seiten: Einerseits kann die Vergemeinschaftung ein Mehr an Selbstbestimmung und Selbstermächtigung bedeuten. Mit Menschen, die die gleichen identitätsstiftenden Erfahrungen machen, lässt sich Solidarität erfahren. Differenzen und Diskriminierung werden anerkannt und das eigene Anderssein betont. Andererseits können fremdbestimmte Zuordnungen festgeschrieben werden. Sie können als naturhaft oder unveränderbar definiert werden und ausgrenzend wirken.
Identität ist veränderbar. Sie zu hinterfragen bietet daher immer Möglichkeiten zur Reflektion und Anerkennung der Diversität unserer Gesellschaft.

Konflikte können zermürbend, aufreibend und zerstörerisch sein.
Konflikte – um Zugehörigkeit und Identität, aber auch um Ausrichtung und Strategien – können innerhalb von (Aktions-)Gruppen zu Zerwürfnissen führen. Gleichzeitig stellen Auseinandersetzungen aber auch eine Basis dar, um sich auszutauschen, Neues zu erarbeiten und sich weiterzuentwickeln. Konflikt im Diskurs kann bereichern. Es entstehen
neue Interessensschwerpunkte. Anderen Themen wird mehr Raum gegeben und die Ziele einer Gruppe oder Bewegung können sich ausdifferenzieren und eine neue Dringlichkeit erfahren.
Diskussionen sind integraler Bestandteil aller sozialen Bewegungen – von der Frauen- und der Arbeiter*innenbewegung des 19. Jahrhunderts bis hin zu Fridays for Future.
Sie zeigen sich nicht nur in der historischen Betrachtung, sondern sind bis heute aktuell.

Worüber definierst Du Dich?
Welche Teile Deiner Identität sind Dir besonders wichtig?
Welche teilst Du in einer Gruppe?

In der Geschichte gibt es viele Beispiele für Identitätspolitiken. Einige davon findest Du hier.

Die HSM war auch bundesweit aktiv. Vor allem ihr Sprecher Rainer Plein engagierte sich auch im Dachverband ‚Deutsche Aktionsgruppe Homosexualität‘ (DAH). Insbesondere politisch linksstehende Aktivist*innen kritisierten Plein und die DAH wegen ihrer Zusammenarbeit auch mit rechtskonservativen und unpolitischen Vereinigungen.

„Eine einheitliche Interessenvertretung für alle Homosexuellen ist nicht möglich, ohne den Anspruch aufzugeben, politisch zu sein.“
„Was heißt es, politisch zu sein?“ war die Kernfrage des Streits. Die sozialistischen HSM-Vertreter*innen sahen die Ursachen der Diskriminierung von Homosexuellen im kapitalistischen System der BRD. Im Unterschied dazu plädierten die Reformorientierten für eine „Humanisierung der Gesellschaft“ von innen heraus. Die DAH versuchte, einen gemeinsamen Nenner aller Gruppen zu finden. So sollte eine Zusammenarbeit über innere Konflikte und politische Gegensätze hinweg gelingen.

Die Unterschiede innerhalb der HSM ließen sich nicht aufheben. Sie zerfiel im April 1974 im Streit um ihre Ausrichtung. „Muss man sich überregional organisieren? Muss man links sein?“ (Fischer, 2022) Zuvor hatten sich bereits die Lesben von der Gruppe gelöst, da sie sich in der HSM nicht mehr vertreten sahen.

Führte der Konflikt zu mehr Vielfalt in der Bewegung? Fakt ist, dass von 1977 bis 1981 die ‚Homosexuelle Initiative Münster‘ (HIM) bestand. Ab 1982 entstanden unter anderem der Ortsverband ‚Homosexuelle und Kirche‘ (HuK), 1985 das Kommunikationscentrum Münsterland (KCM), 1998 der Verein ‚Lesben im Verein am Schönsten‘ (LIVAS).

Wo ist für Dich der kleinste gemeinsame Nenner, um für eine Sache zusammenzuarbeiten?

Interviewausschnitt vom Festakt 2022 mit Sigmar Fischer über den DAH, zum Minimalkonsens und zur HSM:

„Die Lesbe ist die revolutionäre Feministin, und jede andere Feministin ist eine Frau, die einen besseren Handel mit ihrem Alten will.“
— Jill J.

1982 erschien in der westdeutschen feministischen Frauenzeitung Courage der Artikel „Wenn Frau Glück hat entspricht sie der Theorie“. Er griff die Diskussion auf, was „Lesbisch-Sein“ bedeute. In der Frauenbewegung wurde die Frage intensiv debattiert, angefacht durch den Slogan der Lesbenbewegung aus den 1970er Jahren: ‚Feminismus ist die Theorie, Lesbianismus die Praxis‘. Demnach könne eine Feministin erst selbstbestimmt leben, wenn sie sich von ihrer heterosexuellen Konditionierung löse.

„Warum finde ich mich in meiner eigenen Bewegung nicht wieder? Warum lässt die Frauenbewegung die Heterofrauen allein?“
— Claudia

„Ich brauche auch keine starre […] Identität, die sich sowieso einer Fiktion verdankt und nur über Ausschlüsse hergestellt werden kann. Warum begrenzen wir uns ständig auch noch selbst?“
— Doris P.

Die Leser*innen wünschten sich keine Ausgrenzungen durch die Zuschreibung bestimmter Merkmale, sondern einen solidarischen Kampf trotz verschiedener Positionen. Heterosexuelle Frauen fühlten sich von lesbischen Frauen übergangen und umgekehrt. Lesbische Frauen sahen in heterosexuellen Frauen die heterosexuell konstruierte Gesellschaft gespiegelt. Andere forderten eine stärkere Trennung von politischen Forderungen und der eigenen Sexualität.

Dieser Leser*innenbrief in der HFM-Lesbeninfo 1976 zeigt, wie notwendig es erschien, die eigene Identität zu diskutieren. Es galt, Gemeinsamkeiten wie Unterschiede zu betrachten, um als politische Gruppe handlungsfähig zu sein.

„gerade für lesben, […] ist es notwendig, […] unterschiede auch zu heterosexuellen frauen z.b. zu diskutieren und festzustellen, gerade um ihre besondere betroffenheit als frauen, die sexuelle liebesbeziehungen zu frauen haben […] zu erkennen und zum gegenstand von politik zu machen.“
— Vera S.

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